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Die Definition von Solidaritätsgewerkschaft ist ziemlich verwirrend. Wenn ich mit Leuten spreche, auch mit langjährigen IWW-Mitgliedern, scheint es die Annahme zu geben, dass Solidaritätsgewerkschaftsbewegung und direkte Aktion dasselbe sind. Das sind sie aber nicht. Ich möchte den Unterschied klarstellen, weil ich glaube, dass diese Verwirrung die tatsächliche Organisierung behindert, und ich hoffe, dass ich den Menschen helfen kann, ihren Kolleg*innen das Konzept der Solidaritätsgewerkschaft zu vermitteln.
Dies wäre meine Definition von Solidaritätsgewerkschaft: Arbeiter*innen organisieren ein demokratisches Betriebskomitee, um Strategien und Taktiken zu entwickeln, um damit wiederum ihre materiellen Vorteile zu fördern, sich […] zu verteidigen und eine Betriebskultur zu schaffen, in der die Menschen füreinander sorgen […].
Vor kurzem hatte ich ein Gespräch mit einem wichtigen Organizer bei Thomas Train. Thomas Train Solutions ist eine Organisierungskampagne, bei der die IWW 2013 die Zertifizierung als Tarifpartei erlangt haben, aber noch keinen Vertrag aushandeln konnten. Der Gewerkschaftsorganizer war frustriert, dass so viele Leute in den IWW „Solidaritätsgewerkschaftspuristen“ waren. Damit meinte er, dass er nicht der Meinung war, dass sich der Betrieb ausschließlich auf direkte Aktionen verlassen sollte; er wollte einen Vertrag unterzeichnen. Als wir weiter darüber diskutierten, wurde mir klar, dass er Solidaritätsgewerkschaft, ein Organisationsmodell und direkte Aktion, eine Taktik, verwechselte.
Die Beschäftigten von Thomas Train hatten erfolgreich gestreikt, und der Organizer verwies immer wieder darauf als ein Beispiel für die Anwendung von Solidaritätsgewerkschaften. Aber ein Streik ist eine Taktik und er kann von bezahlten Mitarbeitern aber auch einem charismatischen Leader organisiert werden. Er kann aber auch von Arbeiter*innen untereinander organisiert werden. Wenn eine etablierte Gewerkschaftsführung ihre Mitglieder zum Streik aufruft, weil die Vertragsverhandlungen ins Stocken geraten sind oder weil man die Geschäftsleitung als eine große Ungerechtigkeit empfindet, dann ist es bezahltes Personal, das den Streik organisiert. Bei Thomas Train wurde der Streik mehr oder weniger von diesem angeführt. Es wurde zwar also gestreikt, aber nicht im Rahmen einer Solidaritätsgewerkschaft organisiert. Eine Solidaritätsgewerkschaftsorganisation würde bedeuten, dass der Streik von Arbeiter*in zu Arbeiter*in organisiert würde. Direkte Aktionen und solidarische Gewerkschaftsarbeit sind nicht dasselbe.
Dies wäre meine Definition von Solidaritätsgewerkschaft: Arbeiter*innen organisieren ein demokratisches Betriebskomitee, um Strategien und Taktiken zu entwickeln, um damit wiederum ihre materiellen Vorteile zu fördern, sich gegen Disziplinierung durch das Management zu verteidigen und eine Betriebskultur zu schaffen, in der die Menschen füreinander sorgen und sich nicht von der Logik des Kapitals und der Konkurrenz leiten lassen. Dies gilt zunächst für Arbeitnehmende, die am selben Arbeitsplatz arbeiten.
Sie kann aber auch Menschen umfassen, die für dasselbe Unternehmen, aber an verschiedenen Standorten arbeiten; Menschen, die in verschiedenen Unternehmen, aber in derselben Branche arbeiten; und Menschen, die in verschiedenen Branchen, aber entlang derselben Lieferkette arbeiten. Eine wichtige Voraussetzung für die Solidaritätsgewerkschaft ist, dass ein Komitee organisiert ist, und dass der Erfolg oder das Scheitern des Plans in erster Linie von den Fähigkeiten dieses Komitees abhängt und nicht von den bezahlten Mitarbeitern einer Gewerkschaft oder einer einzelnen charismatischen Anführer*in. Einfacher ausgedrückt: Solidaritätsgewerkschaft ist eine aus der Belegschaft/dem Komitee heraus gesteuerte Gewerkschaftsbewegung.
Eine weitere Verwirrung besteht darin, dass Solidaritätsgewerkschaften nicht unbedingt gegen Verträge sind. Diese Vorstellung hat sich bei den IWW durchgesetzt, seit wir 2002 mit den Artikeln von Alexis Buss im Minority Report erstmals darüber nachgedacht haben, was Solidaritätsgewerkschaften sind und wie sie aussehen. Damals haben wir Solidaritätsgewerkschaft noch als Minderheitengewerkschaft bezeichneten. Im Allgemeinen drängt die mitarbeiter*innengeführte Gewerkschaftsbewegung auf eine NLRB-Zertifizierungswahl und einen Vertrag, der hauptsächlich von Angestellten der Gewerkschaft ausgehandelt und durchgesetzt wird. Theoretisch kann ein Betriebsausschuss aber auch einen Vertrag aushandeln, mit oder ohne NLRB-Zertifizierungswahl und ohne, dass dies von Funktionär*innen gesteuert wird. Der Unterschied besteht darin, dass bei einer vom Gewerkschaftspersonal gesteuerten Gewerkschaft dieses Personal die Verhandlungen führt und für die Durchsetzung des Vertrags verantwortlich ist. Bei der Solidaritätsgewerkschaft würde das (Betriebs-)Komitee und damit direkt die in den jeweiligen Betrieben angestellten Arbeiter*innen diese Verantwortung übernehmen.
Direkte Aktionen sind eine Taktik, Solidaritätsgewerkschaften sind ein Organisationsmodell.
Die Erfolge und Misserfolge der Thomas-Train-Kampagne hingen von diesem Hauptorganizer ab. Einige IWW-Mitglieder kritisierten nicht, dass sie eine NLRB-Zertifizierung (1) vorweisen konnten und dann einen Vertrag aushandelten. Sie kritisierten, dass die positive Entwicklung der Gewerkschaftskampagne ins Stocken geraten war, weil dieser Organizer nicht mehr bei Thomas Train arbeitete, obwohl die IWW als Verhandlungsführer zertifiziert war, weil es kein Betriebskomitee gab. Die Erfolge/Misserfolge hingen nun also von externen Funktionär*innen und Organizer*innen und Freiwilligen (Mitarbeitern) ab, die die Gewerkschaftskampagne vorantrieben. Es gab keinen ermächtigten Betriebsausschuss, kein Komitee, das die Vertragsverhandlungen vorantreiben konnte.
Zusammenfassend lässt sich erstens sagen, dass die Solidaritätsgewerkschaft nicht gegen Verträge ist. Sie müssen nur von einem betrieblichen Ausschuss ausgehandelt und durchgesetzt werden. Zweitens: Direkte Aktionen und solidarische Gewerkschaftsarbeit sind nicht dasselbe. Ich möchte niemanden davon abhalten, direkte Aktionen durchzuführen und über die Möglichkeit zu diskutieren, sie in seinem Betrieb anzuwenden – im Gegenteil. Ich möchte nur versuchen zu erklären, was Solidaritätsgewerkschaft ist und was sie nicht ist. Direkte Aktionen sind eine Taktik, Solidaritätsgewerkschaften sind ein Organisationsmodell.
Replik von MK Lees
Ich stimme mit vielem überein, was Fellow Worker Don White in seinem Beitrag für Organizing Work zu sagen hat, in dem er Solidaritätsgewerkschaften als mehr als nur direkte Aktionen, sondern als Selbstorganisation der Arbeiter*innen, ohne Abhängigkeit von Funktionär*innen und bezahltem Personal , darstellt. Ich denke jedoch, dass etwas zu Whites kopfschüttelnder Bemerkung gesagt werden muss, dass "Solidaritätsgewerkschaften nicht unbedingt gegen Verträge seien.
Wir leben in einer Zeit, in der die Streikverbotsklausel (Fussnote) fester Bestandteil der Vertragsverhandlungen mit den Arbeitgebenden ist […]. Diese Klauseln sind die conditio sine qua non des Vertrags.
Selbst ein flüchtiger Blick auf die bisherige Literatur zur Entwicklung des Konzepts der Solidaritätsgewerkschaft zeigt, dass die gesamte strategische Idee als alternatives Modell zur vertragsorientierten Organisierung entstanden ist. Wir leben in einer Zeit, in der die Streikverbotsklausel (2) fester Bestandteil der Vertragsverhandlungen mit den Arbeitgebenden ist; dasselbe gilt für die Klauseln über die Rechte der Unternehmensleitung (3) und die verbindliche Schlichtung (4) als letzte Stufe des Beschwerdeverfahrens. Diese Klauseln sind die conditio sine qua non (notwendige Bedingung) des Vertrags. Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, die die Regel bestätigen, sind sie das Wasser, in dem wir seit mindestens den 1950er Jahren schwimmen.
Vielleicht kann ich mit FW White insofern eine gemeinsame Basis finden, als ich glaube, dass es möglich ist, sich einen Vertrag vorzustellen, der die Macht der Arbeitnehmenden am Arbeitsplatz nicht einschränkt: einen Vertrag, der nur unsere Siege festschreibt, ohne die Instrumente aufzugeben, die uns diese Siege überhaupt erst ermöglicht haben. Ich könnte mir auch einen politischen Kandidaten vorstellen, der der Arbeiter*innenklasse gegenüber so rechenschaftspflichtig ist, dass er nicht korrumpiert wird und dessen Handlungen nur dazu dienen, die Macht der unserer Klasse zu stärken und niemals seine eigene Macht. Aber das widerspricht unserer gelebten Erfahrung. Genauso widerspricht ein Vertrag ohne das Recht der Chef*in auf ununterbrochene Produktion unserer gelebten Erfahrung dem, wie der Vertrag auf dem aktuellen Terrain des Klassenkampfes funktioniert.
Aber eine Vision ohne Strategie sind nur Koordinaten ohne Karte.
Solidaritätsgewerkschaft bedeutet keine Verträge, de facto, wenn vielleicht auch nicht de jure: in der Realität, wenn nicht in der Theorie.
Eine kühne Vision zu haben ist gut. Schließlich können wir uns eine Welt ohne Chef*innen vorstellen, warum also nicht einen Vertrag ohne die Rechte des Managements, ohne "jetzt arbeiten, später trauern", ohne die Erhebung von Vertrauensleuten und Unternehmensvertretern (genau das Problem, von dem uns der Artikel von FW White zu Recht ablenkt)? Aber eine Vision ohne Strategie sind nur Koordinaten ohne Karte. Bis wir also diese Strategie entwickeln und irgendwo gewinnen, müssen wir aufpassen, dass unsere Visionen nicht in magisches Denken umschlagen – sonst finden wir uns auf dem Weg zu denselben müden, alten Tarifverhandlungsvereinbarungen der Unternehmensgewerkschaften wieder.
Solidaritätsgewerkschaft bedeutet keine Verträge, de facto, wenn vielleicht auch nicht de jure: in der Realität, wenn nicht in der Theorie. Das heißt nicht, dass die IWW nicht mit vertraglichen Strategien experimentieren können, aber wir wären ehrlicher, wenn wir diese Arbeit als außerhalb des Konzepts der Solidaritätsgewerkschaft definieren würden. Wenn wir direkte Aktionen durchführen und es uns gelingt, eine langfristige betriebliche Präsenz aufzubauen, wird der "Vertrag" von der Chef*in auf Knien zu uns herangetragen, nicht weil wir es einfach geschafft haben, sie dazu zu bringen, sich uns gegenüber an den Tisch zu setzen.
Glossar
(1) NLRB steht für National Labor Relations Board und ist die us-amerikanische Behörde für Arbeitsbeziehungen. Ein Gewerkschaft muss, um vor dem Gesetz anerkannt zu werden, genug sog. Autorisierungskarten unter den Kolleg*innen im Betrieb vorweisen können und kann dann eine Wahl beantragen. Diese wird unter Aufsicht der NLRB durchgeführt und bei einem positiven Ergebnis vertritt die zur Wahl angetretene Gewerkschaft automatisch die komplette Belegschaft, deren Mitgliedsbeiträge automatisch vom Gehalt abgezogen werden.
(2) Eine Streikverbotsklausel verhindert, dass die Arbeitnehmenden während der Vertragslaufzeit Maßnahmen ergreifen, die den Arbeitsablauf oder die Gewinne stören.
(3) Managementrechteklauseln geben dem Unternehmen das alleinige Recht, die Produktion zu organisieren und den Arbeitsplatz zu leiten.
(4) Ein bindendes Schiedsverfahren als letzter Schritt in einem Beschwerdeverfahren bedeutet, dass eine externe Schlichtungsperson entscheidet, an welches Ergebnis sich sowohl die Chef*in als auch die Gewerkschaft rechtlich halten müssen. Die Entscheidung kann nicht angefochten werden.