...bis in den Schlaf verfolgt

Mark Richter beschreibt das Verfolgen der Arbeit bis in den Schlaf und der Hilfe durch Kolleg*innen.
...bis in den Schlaf verfolgt
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Den Beitrag anhören | Gelesen von Jona Larkin White | Quelle: direkteaktion.org/podcast
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Eines Nachts fing ich an, schlecht zu schlafen. Es waren nicht unbedingt Alpträume, aber ich schlief unruhig, wachte auf und war am nächsten Morgen müde. Allerdings konnte ich mir nicht genau erklären, wie es dazu kam. Ich arbeite als Sozialarbeiter mit Familien. In etwa 80 Prozent der Fälle, in denen ich in die Familie gehe, weil die Kinder nicht zur Schule gehen, weil es zu häuslicher Gewalt kam oder weil die Familie sich selbst beim Jugendamt meldete, komme ich mit den Dingen, die ich erlebe, gut klar.

"Eines Nachts fing ich an, schlecht zu schlafen."

Ich verarbeite die Erlebnisse nicht alleine, sondern in der Supervision, im Team, mit unserer Fachberatung, manchmal sogar mit unserem Chef. Jeder Tag ist irgendwie etwas unerwartet und es ist schön, auch einen Job zu haben, in dem ich manchmal wirklich erlebe, dass sich das Leben meiner Klient*innen zum Besseren wendet. Auch wenn mir klar ist, dass meine Möglichkeiten begrenzt sind und zu meinem Job nicht nur Unterstützung, sondern immer auch Kontrolle gehört. Vielmehr lässt sich sagen, nur, weil es den sozialdemokratischen Sozialstaat gibt, gibt es auch Leute wie mich, die als Teil des Repressionsapparates immer soweit dafür sorgen, dass Menschen nicht sterben, sich aber gesellschaftlich nicht viel zum Guten wendet. Gleichzeitig gibt es auch manchmal Klient*innen, sowie deren Kinder, denen die gemeinsame Zeit hilft.

Es gibt sie aber auch: Die Fälle, die mir sehr nahe gehen. Die mir psychisch und physisch viel abverlangen, weil eine Familie in ihrem System sehr eingefahren ist oder wo der äußere Druck von Schulen, Behörden und Ärzten sehr hoch ist. Weil ich und meine Kolleg*innen sehr nahe dran sind, müssen wir sehr auf unsere psychische Gesundheit und Abgrenzung achten. Schwer genug, denn wir alle in dem Job wollen gerne helfen. Meistens ist mir bewusst, in welch engen Grenzen dies stattfindet.

"Schwer genug, denn wir alle in dem Job wollen gerne helfen. Meistens ist mir bewusst, in welch engen Grenzen dies stattfindet."

In einem Fall arbeitete ich mehrere Jahre an der Seite einer Familie. Eine viel zu enge Wohnung für die Anzahl an Kindern, viel zu wenig Geld und möglicherweise auch eine Überforderung aufgrund der ganzen Tätigkeiten, die in einer großen Familie nötig sind, sowie Rassismus in Behörden. Es war eine Situation, in der ich mich verpflichtet fühlte, an der Seite der Familie zu bleiben, obwohl ich bereits zu verstrickt in die Familiendynamik war. Mir wurde dies bewusst. Ich redete mit meinem Vorgesetzten darüber – aber ich wurde entweder nicht gehört oder ich war mir selbst nicht darüber bewusst, dass ich ohne Hilfe nicht mehr aus der Situation kommen würde. Eines Tages rief ich meinen Chef an, mit dem Hinweis, dass ich aus dem Fall raus muss. Ich konnte nicht mehr. Es geht so nicht weiter. Die Reaktion von meinem Chef: Sehr zurückhaltend. Ich verlor schon langsam die Hoffnung, schnell aus dem Fall zu kommen.

Ich erzählte meinem Team von der Begegnung mit meinem Chef. Sie wussten um mein Leid, meinen Ärger, meine Überforderung. Schon seit Monaten. Sie sahen, dass es mir nicht gut ging. Als mich eine Kollegin fragte, wie mir mein Team helfen könnte, musste ich länger überlegen. Dann fiel es mir ein: Bei unserem Chef anrufen und sagen, dass sie sich große Sorgen um mich macht und ich im schlimmsten Falle in den Krankenstand gehen würde. Außerdem bot sie und eine weitere Kollegin an, den Fall von mir zu übernehmen. Gesagt, getan.

Am selben Tag rief mich meine Kollegin an und bestätigte mir, dass ich am Ende der Woche aus dem Fall raus war. Unser Chef würde den Rest mit dem Jugendamt klären. Ich musste noch eine Übergabe mit ihr machen, und dann war es vorbei. Selten war ich so berührt von einer solidarischen Aktion wie dieser. Meine Kolleginnen halfen mir, wo ich es alleine nicht konnte.

Die Bedingungen, unter denen wir leben und arbeiten, bilden sich manchmal auch in unseren Träumen ab. Sie beeinflussen unsere Hoffnungen, unsere Zukunftsvisionen, unsere Trauer und Wut. Als Kolleg*innen sehen und hören wir uns fast täglich. Wir verbringen manchmal mehr Zeit am Tag miteinander als mit unseren Partner*innen und Kindern. Wir lernen uns zwangsweise sehr gut kennen. Doch zusammengewürfelt werden wir von Anderen. Den Chef*innen, die uns miteinander ins Verhältnis setzen. Die uns nach ihrem Willen auch wieder trennen können. Wir lernen unsere Grenzen, unsere Launen, unsere roten Knöpfe kennen.

Solidarische Beziehungen und das gegenseitige Sorgen umeinander wächst unter diesen Umständen allerdings nicht ohne Zutun. Sie müssen aktiv und willentlich gefördert werden. Wenn das gelingt, überrumpelt eine*n das Glück am Ende. Von Solidarität zu reden und sie selbst zu erfahren, ist der Unterschied ums Ganze. Sie sind ein Vorzeichen für eine Welt, in der wir nicht mehr in Konkurrenz zueinander gesetzt sind. Ich wünschte mir, dies geschähe täglich.

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Dieser Text ist enthalten in unserem Buch: "Spuren der Arbeit. Geschichten von Jobs und Widerstand" erschienen im August 2021.
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